Die Werkstatt für Veränderung (2003 bis 2010) war Teil eines städtischen Wandlungsprozesses in einem Gebiet in Berlin Neukölln, das Ende der 1990er Jahre durch den Bau der A100 durchschnitten wurde. Als Überdeckelung der Autobahn wurde der Carl-Weder-Park angelegt, für dessen künstlerische Gestaltung das Bezirksamt einen Wettbewerb auslobte. Die für Kunst-am-Bau-Verfahren ungewöhnliche Aufgabe bestand darin, einen auf zehn Jahre angelegten Prozess zu entwickeln. Im Vorschlag von Seraphina Lenz war die Benutzung der Fläche als plastisch-gestalterischer Vorgang beschrieben.

Ihr künstlerischer Impuls bestand darin, jedes Jahr eine Ortsverwandlung zu konzipieren, die eine andere mögliche Nutzung implizierte, jenseits vordergründiger Nützlichkeit. Der Park wurde Pferdekoppel, Eintopfküche, Balkon für alle, nächtlicher Lesesaal, Filmset, Festplatz.

Über die Jahre bildete sich eine wachsende Gruppe von Besuchern und ein wachsender Schatz gemeinsamer Erinnerungen an neue und andere Möglichkeiten, an denen die Anwohner einen eigenen Anteil hatten und die dadurch Realität wurden.


2003 platz nehmen


Streng aufgereiht stehen im Carl-Weder-Park die Bänke entlang der 300 Meter langen Achse. Wo sonst könnte man sitzen?

Mitten im Park wurde ein hellblauer Container mit 100 hellblauen Liegestühlen platziert, die im Sommer die Sitzmöglichkeiten im Park erweiterten. Für drei Wochen konnten Besucher täglich einen Liegestuhl ausleihen und dort Platz nehmen, wo sie wollten. Das Aussehen der Anlage wurde durch die Platzwahl der Besucher strukturiert. Neue Lieblingsplätze entstanden, man saß zusammen, das Sitzen im Park nahm täglich neue Formen an. Das Ritual der regelmäßigen Reinigung wurde eingeführt. Die verhaltene Reaktion auf dieses Angebot wurde zum Barometer der Befindlichkeit, das in großer Deutlichkeit zeigte, wie unzufrieden viele Anwohner mit dem ungepflegten Zustand des Parks sind. Das Werkstattteam am Container wurde zur Adresse für diese Beschwerden, die in der Folge auch alle behördlichen Beteiligten beschäftigten und ein Begleitthema des gesamten Projekts wurden.

2004 über uns die Sterne und unter uns die Autobahn


Der nächtliche Park macht vielen Anwohnern Angst. Man könne ihn nicht betreten, weil er unbeleuchtet und unheimlich ist, sagen sie. Außerdem fürchten viele eine Gang, die sich dort nachts manchmal trifft.

Im Sommer 2004 widmete sich die Werkstatt dem Thema Licht und fand überwiegend nach Einbruch der Dunkelheit statt. Es gab einen Leseabend, bei dem an jeder der 26 Bänke eine Stehlampe stand, so als wären die Lampen aus den benachbarten Wohnzimmern in den Park gewandert. Für die Lampionlounge wurden in der Werkstatt im Park Lichtkörper gebaut und zu einem großen Ensemble zusammengefügt. Am letzten Abend waren alle Nachbarn eingeladen, mit mitgebrachten Lichtquellen eine helle Stelle in ihrem Park zu erzeugen. Sie versammelten sich unter Bäumen und versuchten ohne eine äußere Vorgabe ihre Taschenlampen zu koordinieren. An jedem dieser Lichterabende wirkte der Carl-Weder-Park anheimelnd, und diejenigen, die gekommen waren, blieben lange – ganz ohne Unterhaltungsprogramm.

2005 bewegende Besucher


Die Rasenflächen dienen den Hunden zum Auslauf. Werden sie sonst nicht gebraucht? Erhebt niemand Anspruch?

Mit einer Postkarte wurde die Ankunft eines weißen Pferdes im Carl-Weder-Park angekündigt. Die Nachricht sprach sich schnell herum, vor allem unter den Kindern. Dann zog Hannibal, ein schneeweißer Kaltblutwallach, für drei Wochen ein. Ein Drittel der Parkfläche war durch einen Zaun umgrenzt und besonders penibel gereinigt worden. Die raumbildende Maßnahme definierte 1400 Quadratmeter Rasenfläche als exklusiven Lebensraum. Parkbesucher und Anwohner durften ihn nicht betreten, dafür konnten sie das Pferd dabei beobachten, wie es täglich sein Revier durchwanderte, es als Nahrungsquelle nutzte und dabei seinen inneren Bewegungsmustern folgte. Um diesen Raum herum bildete sich spontan ein reichhaltiges soziales Leben, maßgeblich bestimmt durch die überzählige Anwesenheit junger Mädchen. Es mündet in der feierlichen Abschiedsfeier für Hannibal mit vielen eigeninitiativen Aufführungen.

2006 zarte Pflanzen

Die Flora im Park verändert sich sichtbar. Trockenheit und seltene Mahd führen dazu, dass sich Wildkräuter ausbreiten. Scheinbar Zartes setzt sich durch.

Im Mai 2006 wurden 1200 zarte Pflänzchen ins Gelände gesetzt. Es war ein Experiment, das den Härten des Ortes mit offensichtlicher Fragilität begegnete und mögliche Zerstörung einkalkuliert hatte. Passanten kommentierten die Pflanzaktion: „Das ist doch morgen alles rausgerissen!“ Aber es wurde nichts zerstört. In den Hitzemonaten des Sommers wurden die Pflanzen täglich gegossen, während sich das Gras ringsherum in Stroh verwandelte. Viele erfreuten sich an den blühenden Oasen, saßen auf Bänken im Schatten meterhoher Sonnenblumen und ernteten die Zucchini.
Im August eröffnete für drei Wochen der „Balkon für Alle“ mit Blumenkästen und Liegestühlen, die Einladung, den heimischen Balkon zu verlassen und die Nachbarn im Park zu treffen. Diskussionen über den Park entwickelten sich, und in künstlerischen Workshops wie dem Utopienzeichnen entstanden Ideen, die in die Entwicklung der kommenden Projekte einflossen.

2007 verborgene Talente

In der Grünfläche gegenüber der Grundschule ist ein großes Oval für den Unterricht im Freien eingelassen. Es wird jedoch nicht oft benutzt und wirkt ein bisschen unmotiviert. Doch sieht es aus wie eine Arena, wie gemacht für einen Zirkus.

So sollte das „Klassenzimmer im Grünen“  drei Wochen lang täglich den Talenten der Nachbarschaft zum Lernen und Trainieren gehören. Zum Auftakt führte eine Parade mit zwei Kamelen durch den Park zur künftigen Arena, wo Artisten, Tanzlehrer und eine Hundetrainerin Kostproben ihres Könnens zeigten. In den folgenden drei Wochen war das Klassenzimmer täglich und bei jedem Wetter voller Lernwilliger. Es gab Tricktraining für Hunde, Kinder übten, auf Stelzen zu gehen, dabei zu tanzen und Ringe mit dem Kopf zu fangen. Andere probierten Tellerdrehen, auf Bällen zu laufen, Head Spin und Windmills. Es gab Kostümproben, die Visagistin probiert Schminkbilder für die Vorstellung. Am Ende sehen die Zuschauer ein Varieté mit 18 Aufführungen von Schwitters Niesskerzo über Seilsprung auf Stelzen, Ring und Tellernummern bis zu einem Hundetanz.

2008 Filmpark

Der Park ist eine Bühne. Im Film können alle gemeinsam auf dieser Bühne sein, auch die, die man sonst nicht zusammen sieht.

So wurde der Carl-Weder-Park zum Drehort. Es entstand ein 35-minütiger Film über den Ort und seine Besucher, die eingeladen waren, Inhalte und Bilder des Films mit zu gestalten. Man konnte zum Casting kommen und im Film eine Rolle spielen. Kameras lagen bereit, um eigene Sequenzen aufzunehmen. Es gab ein Separee für ungestörte Meinungsäußerungen vor der Kamera und Drehbuchbesprechungen.
Der Film handelt von verborgenen Potenzialen des Parks, von der Möglichkeit, ihn zu verwandeln, ihm neue Bedeutung zu geben. Da verwandeln sich Orte, indem sie als Kulissen in Spielszenen einbezogen werden: Das Klettergerüst wird zum Strandhaus, das tiefer gelegte Bodenoval wird zum überdimensionalen Planschbecken. Die massive Brückenarchitektur enthüllt innerhalb einer Tanzperformance ihr Potenzial als großstädtischer Spielplatz. Noch am letzten Abend des Projekts sahen sich alle bei der Premiere des Rohschnitts auf der Open-Air-Leinwand im Park.

2009 Eintopf inklusive


Die Idee, im Park Gemüse anzubauen, um daraus  einen Eintopf zu kochen und zusammen zu essen, knüpft an die dörflichen Strukturen an, die sich allmählich um die Grünanlage gebildet haben.  Jeder kennt jeden, wenigstens dessen Schwester oder Schwager.

In den vergangenen Jahren hat die Werkstatt für Veränderung Bedürfnisse eingesammelt, um die es im Park Konflikte gibt: der Wunsch nach Ruhe einerseits und der Wunsch nach Fußballspiel, Musik, und Unterhaltung anderseits. Hier der Wunsch nach mehr „Getto“, dort der nach mehr Blumen und weniger Müll. Alle möchten mehr Respekt.  Neben den Konflikten zeigte sich auch das Bewusstsein der Zugehörigkeit über ethnische und generationsbedingte Unterschiede und Lebenssituationen hinaus. Der Park wurde zur Nahrungsquelle für alle, und wie auf einem Dorffest wurde am Ende beim Essen von hundert handbemalten Tellern gefeiert: Die Ernte von einem Zentner im Park kultivierten Gemüses, eine Sammlung von Familienrezepten, und eine Praxis für mehr Respekt. Noch im November blühten Ringelblumen. Vielleicht säht sich von selbst etwas wieder aus.

2010 Zum Mitschreiben


























Das letzte Jahresprojekt ist dem kollektiven Resümee im Schreibcafé unter freiem Himmel gewidmet.

Der Platz am Container war ausgestattet mit 100 Bildern und Objekten aus vergangenen Projekten. Es gab Schreibgeräte aller Art und immer einen Kuchen des Tages. Man konnte sich auch selber Souvenirs machen.

Persönliche Ideen, Geschichten, Erinnerungen, subjektive Perspektiven wurden aufgeschrieben und erzählt. Manche Teilnehmende waren schon als Kinder dabei und sind heute als Jugendliche mit dem Projekt um acht Jahre älter geworden. So entstand ein Kapitel im Buch über die Werkstatt für Veränderung und die, die dabei gewesen sind direkt im Park.

Zum großen Fest zum Schluss kehrte alles noch mal wieder, Liegestühle und Lichter, Pferd und Pflanzen, Artisten und Akteure, Eintopf und Musik. Auf der Bühne lasen Autoren aus dem Schreibcafé ihre Texte. Dann wurde die Bühne wie in den Jahren zuvor, zur offenen Plattform für Unvorhergesehenes. Beim Feuerwerk glitzerten die Birkenspanner. Auf Wiedersehen.


© 2011 für Fotografien: Lothar M. Peter

2011 erschien im Salon Verlag Köln das Buch zum Projekt:

























Das Theorie- und Praxisbuch dokumentiert die künstlerischen, sozialen und vegetativen Prozesse dieses außergewöhnlich lang angelegten Projekts und beschreibt aus verschiedenen Perspektiven, wie sich Ort und künstlerische Arbeit über die Jahre verändert haben.
Textbeiträge von: Leonie Baumann, Dorothea Kolland, Wolfgang Müller, Eva Sturm, Claudia Wahjudi, Jürgen Weidinger.

Gestaltung: Michael Bause
Sprachen: Englisch, Deutsch
192 S. mit 221 farbigen und 14 s/w Abbildungen
Format: 20 x 23 cm
Salon Verlag Köln
ISBN:  978-3-89770-382-7